Grimms „Tischleindeckdich“: Kasseler Germanist identifiziert Erzählerin als Fabrikantentochter aus Rinteln
Das weltbekannte Grimmsche Märchen vom „Tischleindeckdich“ geht auf eine Fabrikantentochter aus Rinteln zurück – dieses Geheimnis hat der Grimm-Forscher Prof. Dr. Holger Ehrhardt von der Universität Kassel jetzt gelüftet. Demnach handelte es sich um eine Eleonore Storch, die ledig gebliebene Tochter eines Gießereibesitzers aus Rinteln und Schwägerin des Kasseler Firmengründers Georg Christian Carl Henschel. Der Urfassung des Märchens fügte sie eine boshafte Ziege hinzu – und ein rätselhaftes Wort.
Ehrhardt veröffentlichte seine Erkenntnisse jetzt im Fachjournal „Fabula“ des renommierten Verlags De Gruyter. Bislang war die Quelle des Märchens in der Forschung nur als „Mamsell Storch“ bekannt – dies wegen einer handschriftlichen Notiz von Wilhelm Grimm. Wie Ehrhardt nun aufdeckte, handelte es sich bei der „Mamsell“ um die Schwägerin des Kasseler Unternehmers Henschel, Eleonore Storch (1750 – 1828), die älteste Tochter des Stückgießers Johann Friedrich Anton Storch aus Rinteln. Zeit ihres Lebens blieb sie unverheiratet, half aber bei der Erziehung ihrer Neffen und Nichten.
Ehrhardt, der die Forschungsprofessur zu Werk und Wirkung der Brüder Grimm an der Universität Kassel innehat, ging bei seinen Forschungen von einer Anmerkung Wilhelm Grimms in den Handexemplaren der „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 aus. Dort notierte er zum Märchen mit dem damaligen Titel Von dem Tischgen deck dich, dem Goldesel und dem Knüppel in dem Sack: „Jeannette im Herbst 1812 von einer alten Mamsell Storch b. Henschel“. Mit „Jeanette“ war Jeanette Hassenpflug gemeint, die sich im Auftrag der Grimms von den Bewohnerinnen und Bewohnern Kassels Geschichten erzählen ließ und sie den Märchensammlern überbrachte. Anders als bislang angenommen war die Mamsell jedoch keine Dienstmagd, gemeint war eine „Jungfrau“. Ein Abgleich mit Tauf- und Geburtsregistern sowie Funde im Nachlass der Familie Henschel im Henschel-Archiv ergaben, dass es sich nur um Eleonore Storch handeln konnte. Eine Zeichnung, die Ehrhardt im Nachlass entdeckte, zeigt die „Mamsell“ beim Tabakschnupfen. Auch einen handschriftlichen Eintrag in eine Art Poesiealbum entdeckte der Germanist.
Das Märchen „Tischleindeckdich“ erzählt die Geschichte von drei Brüdern, die ihr Glück durch magische Gegenstände finden; es geht auf eine neapolitanische Urfassung zurück. In der von Eleonore Storch überlieferten Fassung ist eine intrigante Ziege hinzugefügt, die die Brüder erst aus dem Elternhaus treibt und schließlich selbst vertrieben wird – für den Plot eigentlich unerheblich. Das Motiv ist offenbar einem anderen Volksmärchen entlehnt. Außerdem ist der derbe neapolitanische Befehl „arre caucare“, auf den hin der Goldesel Dukaten ausscheidet, durch das Wort „Bricklebrit“ ersetzt – einen rätselhaften lautmalerischen Ausdruck ohne bekannte Bedeutung, der aber in der Folge in zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen übernommen wurde.
„Eleonore Storch ist ein Beispiel für eine Grimm-Märchen-Beiträgerin aus dem Großbürgertum – nicht immer waren es die einfachen Leute, die das vermeintliche Volksgut überliefert haben“, sagt Ehrhardt. Hätte sie als Tochter das Unternehmen erben können, wäre sie wohl Fabrikantin geworden statt Märchenerzählerin. „Sie hat meines Erachtens das Tischleindeckdich-Märchen nicht ohne Grund im Gedächtnis behalten und als Erzählung wiedergegeben; sie kam selber aus einer Handwerksfamilie und das Fortgehen ihrer eigenen Ziehsöhne – der Kinder ihrer Schwester – war für sie vermutlich ebenso ein prägender Einschnitt wie für den Vater in der Geschichte.“ Die Zugehörigkeit von Eleonore Storch zur Henschel-Familie verknüpft diese Grimm-Märchenerzählerin auf eine gewisse Art und Weise auch mit der Universität Kassel, die ihren Haupt-Campus auf dem ehemaligen Henschel-Firmengelände hat.
Die Grimm-Forschungsprofessur in Kassel ist die einzige in Deutschland, die sich ausschließlich den Sprachkundlern und Märchensammlern widmet. Prof. Ehrhardt deckte kürzlich bereits die Identität der „Aschenputtel“-Erzählerin auf. Die neuerliche Entdeckung ermöglichten ihm umfangreiche Einblicke in den Nachlass der Familie Henschel. „Mein Dank dafür gilt dem Henschel-Archiv“, betont Ehrhardt.
Artikel: Von einer alten Mamsell Storch b. Henschel.“ Zu Herkunft und Textkonstitution von KHM 36. In: Fabula 58/3–4 (2017), S. 207–227.